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Filmbesprechung

Rückkehr nach Anatolien

Samet unterrichtet in einem abgelegenen Dorf in Anatolien und hofft auf eine baldige Versetzung. Aufgrund der Beschwerde einer Schülerin wird seine Lage ungemütlich, gleichzeitig lernt er die engagierte Lehrerin Nuray kennen, die auch seinen Freund Kenan in Bann zieht. Nuri Bilge Ceylan, Gewinner der Palme d’or für Winter Sleep, lotet erneut brillant die Fallgruben menschlicher Beziehungen aus, zeichnet die Fragilität der Hoffnung in luziden Dialogen und starken Bildern. Merve Dizdar erhielt in Cannes für ihr subtiles Spiel den Preis der besten Darstellerin.

Ein weisser Kleinbus hält inmitten einer verschneiten, weitläufigen Landschaft und lässt einen einzelnen Reisenden zurück. Von der windigen Kälte angestrengt, begibt sich der Mann auf seinen Weg. Der Schnee knirscht, er folgt einer zugeschneiten Spur, die zum abgelegenen anatolischen Städtchen führt, das sich in der Ferne erahnen lässt. Regisseur Nuri Bilge Ceylan verortet seinen aktuellen Film nach Winter Sleep und Once Upon a Time in Anatolia erneut im Osten der Türkei. Es ist eine Region, die er als junger Erwachsener gut kennengelernt hat; verschneite Wintertage erinnern ihn an seine Kindheit. Die Ankunft oder vielmehr die Rückkehr seiner Hauptfigur nach Varto macht die absolute Abgeschiedenheit des Ortes, seiner Menschen und des abgesandten Lehrers Samet spürbar.

In der Türkei werden Lehrpersonen an Schulen im gesamten Land verteilt und müssen vier Jahre bleiben, bevor sie einen Schulwechsel beantragen können. Als Kunstlehrer ist Samet bereits den vierten Winter an der Schule und hofft, bald nach Istanbul versetzt zu werden. Vorerst aber muss er nach den Neujahrsferien auf seinen unbeliebten Posten zurück. Weil es in der lange dauernden kalten Jahreszeit nicht möglich ist, Schulkinder aus den Dörfern in die tiefergelegenen Städte zu bringen, existieren vor Ort noch vereinzelt alte Schulhäuser, in denen in kleinen Klassen unterrichtet wird. Es ist ein überschaubarer Kreis mit einer beinahe familiären Atmosphäre für die Lehrpersonen wie auch für die Kinder, die oft aus bescheidenen Verhältnissen kommen.

Das Drehbuch zu About Dry Grasses basiert auf den Tagebüchern des Co-Autors Akin Akus, der seine Eindrücke während der Arbeit an einer Schule in Anatolien festgehalten hat. Es ist der zweite Film, den Aksu mit Nuri Bilge Ceylan realisiert. Aksus sehr persönliche Vorlage spiegelt sich in der emotionalen Komplexität der Hauptfigur wider, und so auch in den facettenreichen Nebenfiguren mit ihren Lebensgeschichten, aus denen man je eigene Filme entwickeln könnte. Da ist etwa der zwielichtige junge Mann Feyyaz, der vom örtlichen Polizeichef beobachtet wird und Samet eines Nachts im improvisierten Teehaus anvertraut, dass sein Vater, als er klein war, vom Militär abgeführt wurde und er ihn danach nie wieder gesehen hat. Ein Verweis auf die schmerzvolle Geschichte der kurdischen Freiheitsbewegung.

Filmbild aus «About Dry Grasses»
Die beiden Lehrer Samet und Kenan

Samet fotografiert in seiner Freizeit. Auch der aufmüpfige Feyyaz findet sich auf einem seiner Porträtfotos neben Hirten, Bauern, Jägern und spielenden Kindern, denen Samet in und um die kleine Ortschaft begegnet. Diese künstlerische Form der Auseinandersetzung scheint eines der wenigen Dinge zu sein, die Samet dem Aufenthalt abgewinnen kann. Ceylan baut die ausdrucksstarken Bilder, die er und seine Frau Ebru im Lauf der Dreharbeiten fotografiert haben, wie kleine Vignetten in den Film ein und bereichert so das Bild vom Leben im langen Winter der aus der Zeit gefallenen anatolischen Landschaft. Der Jahreszeit geschuldet, finden Begegnungen und Gespräche grösstenteils in Innenräumen statt, was das Aufeinandertreffen der Menschen wie kleine Kammerspiele erscheinen lässt. Eine ruhige Kameraführung und Ceylans Vorliebe für lange Einstellungen verstärken den Eindruck. Den engsten Kontakt hat Samet zu Kenan, der ebenfalls an seiner Schule unterrichtet. Die zwei Jungessellen teilen sich einen Haushalt, und während sie in ihrer dunkeln Stube gemeinsam Tee trinken, wird deutlich, dass Kenan mit ihrer Lebenssituation besser klarkommt. Er stammt aus der Region, fühlt sich den Menschen verbunden und widersteht der Versuchung, sich von Samets unterschwelliger Unzufriedenheit anstecken zu lassen. Im Schulalltag ist Samet durch seinen lockeren Unterrichtsstil bei seinen Schüler:innen beliebt.

Seit ich im Alter von 19 Jahren ‹Schuld und Sühne› gelesen habe, hat sich mein Leben verändert. Ich reflektiere über meine Figuren durch das Prisma dieser Literatur. Aber es ist ein anderes Land mit einer anderen Kultur, und jedes Land hat seine eigene Kultur, und wir alle haben unterschiedliche Persönlichkeiten. Was sich aber weder mit der Zeit noch mit der Kultur ändert, sind die Seelen, die überall ähnlich sind. Das ist es, was ich erforschen möchte, was ich verstehen möchte und was ich sehen möchte.

Besonders die 11-jährige Sevim sucht seine Nähe. Auch ausserhalb des Unterrichts scherzt sie mit dem Mann, der seinerseits – geschmeichelt durch die Aufmerksamkeit – ihre Schwärmerei durch kleine Geschenke fördert. Als ein geheimer Liebesbrief von Sevin an ihren Kunstlehrer den Weg in die Hände einer anderen Lehrperson findet, wird eigentlich nur allgemein bekannt, was schon offensichtlich war. Vor allen blossgestellt und gekränkt, ergreift Sevim mit ihrer besten Freundin die Flucht nach vorn. Sie beschuldigen ihre Lehrer Samet und Kenan, sich ihnen gegenüber anzüglich verhalten zu haben, worauf sie beim Vorsteher der Bildungsdirektion vorgeladen werden. Nuri Bilge Ceylan interessiert sich nicht für den Skandal oder die moralische Dimension der Anschuldigungen – die am Ende von oberster Instanz vertuscht werden und für alle Beteiligten ohne Konsequenzen bleiben. Ceylan erforscht die emotionale Ebene seiner Haupfigur. In der stillen Beobachtung übersetzt er Samets Gemütszustand in Bilder, etwa wenn er nachts wach liegt und wir an seiner inneren Unruhe teilhaben.

Noch vor dem Zerwürfnis macht Samet die Bekanntschaft der jungen Englischlehrerin Nuray, mit der er sich in der nächstgrösseren Stadt auf ein Date verabredet. Dass es sich bei ihr nicht um irgendeine Figur handelt, wird schon in der einführenden Sequenz klar. Barocke Klaviermusik erklingt, und die Kamera begleitet die schöne, aber von einer gewissen Schwermut geprägte Frau auf ihrem Weg durch ein volles Schulhaus in die Kantine, in der Samet auf sie wartet. Zum ersten und bis auf die Schlusssequenz einzigen Mal wird hier eine Szene musikalisch begleitet. Nurays Figur ist von einer Person aus Ceylans Bekanntenkreis inspiriert: Als linke Aktivistin und Lehrerin lebte Nuray ein selbstständiges und engagiertes Leben in Ankara, bis sie bei einem Terroranschlag verletzt wird und als Folge davon ein Bein verliert. Sie ist eine Persönlichkeit, die mühelos einen gesamten Film tragen könnte. In ihr findet Samet seine intellektuelle Gegenspielerin, auch wenn er sich zuerst nicht interessiert zeigt.

Filmbild aus «About Dry Grasses»
Das Dreiergespann, um das sich der Film dreht.

Nuray, Samet und Kenan verbringen Zeit miteinander und bilden ein merkwürdiges Dreigespann. Kenan zeigt sich sofort an ihr interessiert und beginnt Nuray Avancen zu machen. Als sie das Interesse zu erwidern beginnt, erwacht in Samet die Eifersucht. Doch Nuray lässt sich nicht vereinnahmen und baut zu beiden ein freundschaftliches Verhältnis auf. Bemerkenswert offen spricht sie über ihre Behinderung und die schwerwiegenden Folgen für ihr Leben. Nuray ist fest entschlossen, sich im Leben neu auszurichten und reflektiert ihre Ängste und Bedürfnisse. Merve Dizdar verkörpert diese emanzipierte und trotz aller Rückschläge zuversichtlich und mutig voranschreitende Figur mit beinahe provokanter Würde und radikaler Zerbrechlichkeit, in Cannes wurde sie dafür verdient als beste Darstellerin ausgezeichnet.

Die schauspielerisch intensivste Szene in About Dry Grasses bereitet dem sich abzeichnenden Schlagabtausch zwischen Nuray und Samet eine Bühne. Durch eine kleine Hinterlist gelingt es Samet, seinen Nebenbuhler vom gemeinsamen Abendessen bei Nuray fernzuhalten. Im Esszimmer ihrer Eltern sitzen sie sich gegenüber, umgeben von den Bildern, die Nuray in ihrer Freizeit malt. Obwohl sie so vieles gemeinsam haben, teilen sie nicht den Blick auf die Welt. Als ehemalige Aktivistin spricht Nuray Samet auf seine Unzufriedenheit an, wirft ihm Untätigkeit und fehlende Solidarität vor. Er verteidigt sein Misstrauen gegenüber Idealisten, für ihn endet im Kollektiv die Freiheit des Einzelnen.

Nuri Bilge Ceylan gibt den messerscharfen Dialog für ein spannungsgeladenes Streitgespräch vor. Die Argumente, die sie sich gegenseitig erwidern, klingen wie dieZwiegespräche einer polarisierten Gesellschaft. Schlussendlich führt ihr Streit zum universellen Kern aller Gesellschaftsdebatten und der Frage, auf welcher Seite man stehen will. Im Laufe ihrer hitzigen Debatte kommen sich Nuray und Samet näher. Als die Kamera zurücksetzt und ein zarter Windhauch mit ihren herunterhängenden Haarsträhnen spielt, ist klar, dass sie sich für diesen Abend einigen können. Aber so einfach lässt Ceylan den Moment nicht abklingen. Als wollte er das Publikum dazu einladen, sich an der Debatte zu beteiligen, distanziert er sich für einen Moment vom Geschehen, indem er seinen Darsteller die vierte Wand durchbrechen lässt. Samet tritt durch eine Türe und läuft über das Filmset, die Kamera begleitet ihn bis an ein Waschbecken, wo er sich die Hände wäscht. Samet verabschiedet sich nach vier Jahren von seiner Schule, eine Aussöhnung mit Sevim bleibt ihm verwehrt. Die Schlussszene begleitet die drei auf einem sommerlichen Ausflug zu den steinernen Götterköpfen auf dem Berg Nemrut. Ceylans Kino ist weder das der grossen Gefühle, noch das der sich überschlagenden Ereignisse. Für ihn spielt die Zeit eine grosse Rolle. In ihr verortet er seine Figuren, überlässt sie darin sich selbst.

Der Trailer zum Film
portrait Nuri Bilge Ceylan

Nuri Bilge Ceylan:

Nuri Bilge Ceylan was born in Istanbul on January 26th, 1959. In 1976, he began studying chemical engineering at Istanbul Technical University, in a context of strong student unrest, boycotts and political polarization. In 1978, he switched courses to Electrical Engineering at Boğaziçi …

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