Wara mendel - Dance of the Wind
In Indien scheint das Leben stärker geerdet als in unseren Breitengraden. Fünftausend Jahre alt ist die Tradition, von der Rajan Khosas Film erzählt. Ihr zufolge lehren die Eltern ihre Kinder die Lieder der Weisheit, die es ihnen ermöglichen, das Leben und das Schicksal mit grösserer Gelassenheit zu tragen. Der Filmemacher selber beschreibt das, wenn er sagt, es fliesse in den Adern des Inders, der Inderin etwas, was der weltweit vorherrschenden Überflutung durch die Reize des Marktes standhalte, etwas, "das ganz uns gehört". Pallavi - sie wird gespielt von Indiens erfolgreichstem Fernsehstar Kitu Gidwani - ist eine junge, erfolgreiche Sängerin, die ihre Kunst bei der Mutter erfahren hat. Sie müsse noch so viel von ihr lernen, sagt die Tochter nach einer Gesangsstunde. Nein, meint die Mutter, sie könne jetzt die Tradition des Musizierens und der mündlichen Überlieferung selber am Leben erhalten. Kurze Zeit danach stirbt die alte Frau, die ihrem Kind auch von einem Guru mit Namen Baba berichtet hat, der jenseits von Name und Form existieren würde. Weil die Tochter glaubt, die Reinheit der Musik nicht zu beherrschen, verstummt sie nach dem Tod der Mutter mitten in einem Konzert.
Indien ist ein Land des gebrochenen Lichts, ein Land des klanglichen Reichtums auch, der von Geräuschen der Natur genauso bestückt ist wie von jenen der Technik. Rajan Khosa versteht es vorzüglich, diesem Licht und diesen Klängen Raum zu geben. Sein Film beschreibt die Reinheit des Gesangs nicht nur, sein Film besingt sie, auch und gerade in jener Zeit, da Pallavi verstummt. Denn ihre Stille ist nichts anderes als die Suche nach der inneren Stimme, nach der inneren Kraft, die zum Leben so wichtig ist.
Die Sängerin wird ihre eigene Stimme finden müssen. Der Filmer zeigt ihre Suche im alltäglichen Klangmeer, indem er ein kleines Mädchen auftauchen lässt, dem Pallavi lange folgt, ohne es fassen zu können. Es ist, als wäre ihre eigene Stimme noch flüchtig, als würde sie noch untergehen im Wirrwarr draussen. Khosa macht diese Suche, die nach innen gerichtet ist, durch diese Suche draussen sichtbar und nachvollziehbar. Und in einer vorzüglich elaborierten Tonspur hörbar! Mitunter gehen die Töne von Musik und Marktgeschrei in einem einzigen Schnitt ineinander über. Betäubend kann der Klangraum wirken, in dem Pallavi ihre eigene Stimme, ihren eigenen Klang genauso finden muss wie den Einklang mit dem Ganzen. Oder war am Ende alles umgekehrt? Jedenfalls gibt ihr der stumme Guru zuletzt auf einen Blatt Papier den Rat: "Hör auf zu suchen, nur dann wird die Musik dich finden."
Walter Ruggle
Festivals & Auszeichnungen
Mostra Internazionale di'Arte Cinematografica Venezia, Filmfestival Rotterdam (Februar 1998), Internationale Filmfestspiele Berlin (Februar 1998). - Preis des Publikums London Film Festival (Channel Four/Guardian); Preis des Publikums (ARTE/Radio France) und Preis für die beste Darstellerin (Kitu Gidwani), Festival des 3 Continents Nantes, Dezember 1997