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Mexikanischer Perspektivenwechsel
Nach der Ermordung seines Vaters – eines Auftragskillers im Dienste eines Kartells – scheint der Weg des jungen Sujo vorgezeichnet. Die Filmemacherinnen Fernanda Valadez und Astrid Rondero aber stellen in diesem beeindruckenden Film die Frage: Gibt es einen Weg, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, und wie könnte er aussehen? Ein äusserst berührendes zweites Werk nach «Sin señas particulares».
Stundenlang wartet der kleine Sujo – er ist gerade einmal vier Jahre alt – im Auto seines Vaters, bis dieser seinen Auftrag vollendet hat. Wir befinden uns in der «Tierra Caliente», der von gleissendem Sonnenlicht, Trockenheit und wirtschaftlicher Armut geprägten Region in Mexikos südwestlich gelegenem Bundesstaat Michoacán. Dass sein geliebter Vater als Auftragskiller im Dienste des lokalen Drogenkartells tätig ist, weiss Sujo zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber wenige Tage später ist sein Vater tot. Und als Sohn eines ermordeten Verräters droht der kleine Junge selbst zum Ziel des Kartells zu werden. Bald findet er sich in der einfachen, in den Bergen versteckten Hütte seiner genauso toughen wie hellsichtigen Tante Nemesia wieder, wo er die nächsten Jahre aufwachsen wird. Abgeschottet zwar, aber auch geschützt vor den Greifarmen der lokalen Mafia, erlebt Sujo eine Jugend in Verbundenheit mit Nemesias Büchern sowie der zauberhaften Natur des mexikanischen Hochlandes.
Auf den Spuren des Vaters
Jahre später – aus dem kleinen Jungen ist inzwischen ein neugieriger Teenager geworden, passiert das Unvermeidliche: Zusammen mit Jeremy und Jai, seinen beiden Cousins und einzigen Freunden, begibt sich Sujo auf die genauso verlockenden wie brandgefährlichen Spuren seines Vaters. Aber Sujo spürt bald, dass er im Grunde ein anderes Leben führen will und macht sich mit Hilfe von Nemesia schliesslich auf den Weg in die ferne Hauptstadt Mexikos, wo er sich als Handlanger im Gemüsehandel eine neue Existenz aufbaut und mit der Literaturprofessorin Susan unerwartet eine Mentorin findet. Dennoch, die Vergangenheit – in der Form seines in der Klemme sitzenden Cousins Jai – wird ihn bald wieder einholen. Hijo de Sicario verfolgt die Jugend Sujos über viele Jahre und mehrere Stationen, die in vier fesselnden, atemberaubend fotografierten Episoden erzählt werden. Dabei erzählt jede Episode Sujos Geschichte aus der jeweiligen Perspektive jener Mitmenschen, die seinen Lebensweg formen und mitbeeinflussen.
Weiblicher Lichtblick
Es ist kein Zufall, dass es Frauen wie Nemesia oder die Literaturprofessorin Susan sind, die Sujos Leben prägen und die Möglichkeit eines alternativen Wegs zur toxisch-maskulinen Welt der Drogenkartelle aufzeigen. Und es ist kein Zufall, dass diese Geschichte aus einer prononciert weiblichen Perspektive erzählt wird: In einem Land, das kürzlich mit Claudia Sheinbaum erstmals und mit überzeugender Mehrheit eine Frau an die Staatsspitze gewählt hat, sind auch die Kinoleinwände in den letzten paar Jahren von einer neuen – ausgeprägt femininen – Welle erfasst worden. Sie offenbart ganz neue Blickwinkel auf eine Gesellschaft, deren Geschichten wir bisher vor allem durch die Brille von tollen Filmemachern wie Alfonso Cuarón, Alejandro González Iñárritu oder Carlos Reygadas kennenlernten. Exemplarisch für die neue, feminine Welle des mexikanischen Kinos stehen Regisseurinnen wie Tatiana Huezo, Natalia López Gallardo oder Lila Avilés, die mit Noche de fuego (2021), Manto de gemas (2022) oder Tótem (2023) in den vergangenen Jahren bei den internationalen Filmfestivals von Berlin oder Cannes für Aufsehen sorgten und eine neue Sensibilität in die mexikanische Filmkunst bringen, die wir bisher nicht kannten.
Zum Kreis dieser neuen femininen Welle sind ganz ohne Zweifel auch Astrid Rondero und Fernanda Valadez, die Macherinnen hinter Hijo de Sicario, zu zählen. Die beiden Regisseurinnen und Drehbuchautorinnen, die sich im Filmstudium an der staatlichen mexikanischen Filmschule «Centro de Capacitación Cinematográfica» kennenlernten und seither ein äusserst produktives und erfolgreiches Duo bilden, verblüfften uns bereits vor vier Jahren mit dem Roadmovie Sin señas particulares. Der Film drehte sich um ein Thema, um das man in Mexiko traurigerweise kaum herumkommt: die «Desaparecidos», Menschen, die eines Tages spurlos verschwinden – oftmals aufgrund der üblen, menschenverachtenden Machenschaften der Drogenkartelle.
Wir wollten, dass sich jede Episode wie eine Jahreszeit im Leben dieses jungen Mannes anfühlt, jede mit ihrer ganz eigenen Atmosphäre.
Fernanda Valadez und Astrid Rondero
Mit Hijo de Sicario bleiben die beiden Filmemacherinnen beim Thema, wechseln aber die Perspektive und erzählen direkt aus dem Milieu der Kartelle. Den sensationslustigen Gewaltbildern und zweidimensionalen Figuren anderer, oft US-amerikanischer Produktionen, die im selben Milieu spielen – man denke an Filme wie Desperado (1995), Sicario (2015) oder Miss Bala (2019) – können Rondero und Valadez allerdings wenig abgewinnen. In ihrem filmischen Universum wird die Gewalt nicht geleugnet – das wäre auch absurd, schliesslich sterben in Mexiko laut neuen Statistiken täglich(!) 94 Menschen einen unnatürlichen Tod – aber sie muss nicht gezeigt oder gar als filmisches Spektakel ausgeschlachtet werden. Im Gegenteil: Andeutungen genügen und geben Raum für eine nachhaltigere Wirkung. Rondero und Valadez wollen vielmehr erkunden, wie der Kreislauf der Gewalt durchbrochen werden kann, und so ist Hijo de Sicario eine von Empathie, Poesie und Hoffnung geprägte Geschichte, die die grosse Frage stellt: Gibt es für einen Jungen wie Sujo einen Weg, dem Milieu, in das er hineingeboren wurde, zu entkommen und ein völlig anderes Leben zu führen? Dem scheinbar vorgegebenen, unabwendbaren Schicksal zu entkommen?
Magisch ästhetisch
Beim renommierten Sundance Film Festival, wo der Film Anfang 2024 uraufgeführt wurde, zeigte sich die Jury beeindruckt und zeichnete das Werk mit dem Hauptpreis aus mit der Begründung, dass der Film ein eigenes, neues filmisches Vokabular erschaffen habe. Dem kann man nur zustimmen: Rondero und Valadez sind Ausnahmekönnerinnen, wenn es darum geht, mit atmosphärischen und symbolstarken Bildern zu erzählen. Zusammen mit ihrer Kamerafrau Ximena Amann, die für alle vier Episoden ein eigenes ästhetisches Design konzipiert hat, hauchen sie jeder Szene ein Stück Kinomagie ein, die weit über das blosse Abgebildete hinausgeht und gedankliche Verknüpfungen ermöglicht. Etwa in der eingangs erwähnten Szene im Auto, wenn der junge Sujo – im Gegensatz zu uns Zuschauenden – nichtsahnend auf die Rückkehr seines Vaters wartet, bis er schliesslich von einem vorbeiziehenden Schafhirten erlöst wird.
Meisterhaft ist auch, wie die Gegensätzlichkeit verschiedener Orte und sozialer Welten in Mexiko «ganz nebenbei» miterzählt wird: Hier die magische, aber auch bedrohliche Natur des von den Kartellen kontrollierten Hochlandes. Dort die betonierte Kälte, aber auch die institutionalisierte Kultur des bildungspolitischen Zentrums Mexiko-City, wo sich Menschen wie Sujo gefühlt wie Ausserirdische ihren Weg suchen. Auch wenn Sujo, wie der Film aufzeigt, beinahe von einem «anderen Planeten» kommt, besteht doch die Hoffnung, dass er eines Tages hier ein neues spirituelles Zuhause und einen alternativen Lebensentwurf findet.
Astrid Rondero:
Astrid Rondero (*1989) ist eine mexikanische Filmregisseurin, Produzentin und Drehbuchautorin. Mit dem Kurzfilm In Still Waters (2011) erlangte sie ihren Abschluss am Centro Universitario de Estudios Cinematográficos in Mexiko-Stadt und feierte erste Erfolge.
Mit Fernanda Valadez verbindet sie eine…
Fernanda Valadez:
Die Regisseurin und Produzentin Fernanda Valadez wurde 1981 in Guanajuato in Mexiko geboren. Ursprünglich studierte sie Philosophie und Lateinamerikastudien, stellte dann aber fest, dass sie sich nicht über Konzepte ausdrücken, sondern Emotionen durch Geschichtenerzählen näher kommen wollte. Schrif…
Hijo de Sicario
Artikel veröffentlicht: 12. September 2024
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